Freiburger Bürger:innen fordern in Brief Freiburg zur Modellregion für eine Niedrig-Inzidenz-Strategie zu machen.

In einem offenen Brief unterzeichnet von 47 Freiburger:innen fordern diese Freiburg zu einer Niedrig-Inzidenz-Modellregion zumachen. Die Vorraussetzungen seien gut: Der Inzidenzwert in Freiburg sei häufig niedriger als im Landesdurchschnitt gewesen. Auch gegenwärtig läge er deutlich niedriger. In Freiburg gäbe es außerordentlich viele engagierte Bürger*innen, die sich mit ihren Kompetenzen in die Bekämpfung der Pandemie einbringen und sozial-strukturelle Milieus, die für wissenschaftsbasierte Diskurse und wissenschaftsbasierte Handlungsstrategien offen seien.

Sebastian Müller, der den Brief initiiert und koordiniert hat: „Wir wollen hin zu einer klaren Zielvorgabe, die heißt Corona-Infektionen verhindern und so Krankheit und Tod vermeiden.“

Die derzeitigen Maßnahmen der „Notbremse“ reichten nicht aus um wirkungsvoll, die Pandemie in den Griff zu bekommen.

Es kann nicht sein, dass wir an der Belastungsgrenze der Intensivstationen herum, gerade Kinder- und Jugendliche durchseuchen, während in drei Monaten fast alle geimpft sein könnten.“, erläutert Müller.

In anderen Ländern, wie Finnland, Portugal, Taiwan habe man durch stringente Maßnahmen selbst hohe Inzidenzzahlen in wenigen Wochen deutlich drücken können und dort sei nun ein normales gesellschaftliches Leben möglich.

Das Schreiben richtet sich an den Oberbürgermeister, die Gemeinderäte, den Ministerpräsident und die örtlichen Landtagsabgeordneten.

Brief im Wortlaut

Freiburg, den 28.4.2021

Betreff: Freiburg als Modellregion für eine Niedrig-Inzidenz-Strategie

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann,
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Horn,
Sehr geehrte Damen und Herren des Gemeinderates,

Die Infektionszahlen steigen in Deutschland und auch in Freiburg seit Ende Februar wieder exponentiell an. Die Lage in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen verschärft sich dramatisch. 

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V. (DIVI) geht davon aus, dass bis Ende des Monats mindestens 6.000 Intensivbetten durch Covid-19-Kranke belegt sein werden – so viele wie auf dem Höhepunkt der zweiten Welle im Dezember vergangenen Jahres. Spätestens im Mai werden wir diese Zahl überschreiten. Bereits jetzt müssen Operationen verschoben werden. Die Gefahr, dass es in unseren Krankenhäusern zu einer Triage kommen wird, steigt täglich.

Das im Sommer 2020 ursprünglich gesetzte Ziel, eine 7-Tage-Inzidenz von 50 nicht zu überschreiten, wird bereits seit dem 20.10. des vergangenen Jahres in vielen Teilen Deutschlands und seit dem 19.10. auch in in Freiburg nicht mehr eingehalten.

Wir begrüßen deshalb ausdrücklich die Schaffung eines bundeseinheitlichen Rahmens mit dem Ziel, die Pandemie endlich wirksam einzudämmen. Die in der geplanten Novelle des Infektionsschutzgesetzes genannten Maßnahmen, sind dazu im Prinzip geeignet, müssten aber bereits jetzt konsequent und bei deutlich niedrigeren Schwellenwerten angewendet werden. Nur mit einer Niedrig-Inzidenz-Strategie können wir verhindern, dass unser Gesundheitssystem zusammenbricht. Wir haben jetzt in der Hand, vermeidbare Todesopfer und Langzeiterkrankungen zu verhindern! Dazu müssen wir schnellstmöglich einen Inzidenzwert von unter 10 erreichen. 

Der seit Monaten andauernde »halbe« Lockdown führt zu massiven Unterrichtsausfällen und klassenweisen Quarantänen, Schließung von Ladengeschäften und Betrieben, Existenzangst, Burn-Out-Erkrankungen sowie psychischen und emotionalen Schäden. Insbesondere Familien – den Kindern und Eltern – wird seit Monaten eine nicht enden wollende Dauerbelastung zugemutet, während in Betrieben offenbar oft weiterhin in Präsenz gearbeitet wird. Diese Diskrepanz ist nicht vernünftig vermittelbar und schwächt daher die Glaubwürdigkeit aller Maßnahmen, die auf Infektionsreduzierung gerichtet sind. 

Modellprojekte zur Öffnung, wie sie auch in Freiburg und Baden-Württemberg diskutiert werden, haben nur dann eine Perspektive, wenn zuvor das Infektionsgeschehen deutlich verlangsamt wird – weit unter eine 7-Tages-Inzidenz von 50. Das Ziel sollte eine Inzidenz von unter 10 sein.

Wir weisen an dieser Stelle ausdrücklich auf die Gefahr hin, dass eine lange Zeit mit hohen Inzidenzen auch einen mühsam und teuer erreichten Impferfolg zerstören kann. Ein starkes Infektionsgeschehen bei laufender Impfkampagne erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Mutationen auftreten, gegen die verfügbare Impfstoffe nichts oder nur wenig ausrichten können.

Länder wie Portugal haben gezeigt, dass eine Niedrig-Inzidenz-Strategie auch unter den Bedingungen der aktuellen Mutationen möglich ist.

Wir streben daher an, die Infektionszahlen so schnell wie möglich auf einen Inzidenzwert von 35 bzw. noch weiter, bis unter zehn, zu drücken. Daher bitten wir Sie, Freiburg als Modellregion für eine Niedrig-Inzidenz-Strategie zu positionieren

Die Voraussetzungen sind aus unserer Sicht gut: Der Inzidenzwert in Freiburg war häufig niedriger als im Landesdurchschnitt. Auch gegenwärtig liegt er deutlich niedriger. Hier gibt es außerordentlich viele engagierte Bürger*innen, die sich mit ihren Kompetenzen in die Bekämpfung der Pandemie einbringen und sozial-strukturelle Milieus, die für wissenschaftsbasierte Diskurse und wissenschaftsbasierte Handlungsstrategien offen sind. 

Mit dieser klaren Zielvorstellung und der oben beschriebenen Notwendigkeit, jetzt wirkungsvolle Maßnahmen zur Infektionsbekämpfung umzusetzen, schlagen wir folgende Lösungsansätze vor:

1 Gesamtgesellschaftliche Verantwortung tragen

In der Vergangenheit wurden einzelne Lockerungen und Ausnahmen mit dem Argument begründet, dass das Ausbruchsgeschehen in genau diesem Bereich nicht signifikant zum Gesamtgeschehen beitragen würde. Die Pandemie ist allerdings genau deshalb so schwer zu bekämpfen, weil sich das Gesamtgeschehen mittlerweile aus vielen Infektionsherden zusammensetzt. Folglich kann jede einzelne Maßnahme nur wirken und zudem plausibel wirken, wenn zugleich in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens Einschränkungen, als Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, schnell umgesetzt werden, ohne dabei vulnerable Gruppen aus dem Auge zu verlieren.

2 Konsequente Maßnahmen im Wirtschafts- und Berufsleben

Viele Unternehmen und Institutionen handeln in der Pandemie verantwortungsvoll und umsichtig. Dennoch wird deutlich, dass die freiwillige Selbstverpflichtung für Home-Office von zu vielen Unternehmen und Institutionen noch immer nicht ausreichend umgesetzt wird. Das Infektionsschutzgesetz muss daher eine Home-Office-Pflicht für alle Arbeitsplätze einführen, an denen das möglich ist. Wo weiterhin in Präsenz gearbeitet werden muss, muss von den Unternehmen ein verpflichtender Selbsttest für alle Arbeitnehmer*innen einmal am Tag umgesetzt werden (bzw. in einem Abstand, der wissenschaftlich begründet werden kann und sinnvoll ist). Die Kosten hierfür dürfen nicht bei den Arbeitnehmer*innen abgeladen werden. Die Stadt Freiburg und die öffentlichen Institutionen müssen hier mit gutem Beispiel vorangehen. 

3 Organisation des Schul- und KiTa-Betriebs

Wir verstehen, dass eine sorgfältige Abwägung zwischen dem Kindeswohl und dem Infektionsschutz getroffen werden muss. Eine hochinzidente Pandemielage mit Infektionen, die von den Kindern in die Familien getragen werden und dort dramatische Folgen haben können, sind allerdings für Kinder und Jugendliche mindestens ebenso belastend wie lange Zeiten von Distanzunterricht. Niedrige Inzidenzen sind deshalb die beste Garantie dafür, das Kindeswohl in allen Belangen schützen zu können.

Die in dem Infektionsschutzgesetz genannte Grenze von 165 für den Wechsel in den Distanzunterricht ist deshalb viel zu hoch und für das Kindeswohl kontraproduktiv. Sie führt nicht zu einer Eindämmung des Infektionsgeschehens, sondern lediglich zu einer langsamen Durchseuchung. Deshalb fordern wir, den Schwellenwert deutlich abzusenken, um das Ziel von einem gesamtgesellschaftlichen Inzidenzwert von unter 10 zu erreichen.

Eine tägliche Testpflicht oder zumindest ein Testangebot in einem Abstand, der wissenschaftlich begründet werden kann und sinnvoll ist, soll so lange aufrechterhalten werden, bis die Impfquote in der Gesamtbevölkerung hoch genug ist. Die notwendige Betreuung der Kinder durch einen Elternteil muss auch arbeitsrechtlich mit weiteren Fehltagen abgesichert werden.

4 Kontrolle und Durchsetzung der Maßnahmen

Ein Grund für die negative Entwicklung der Pandemie seit dem vergangenen Herbst ist, dass die bestehenden Maßnahmen zum Teil nur halbherzig umgesetzt werden. Vielmehr ist es nötig, diese konsequent durchzusetzen. Das bedeutet, dass die Regeln besonders in den Betrieben und z.B. bei der Durchsetzung der Quarantäne stärker kontrolliert werden müssen, damit eine gute Nachverfolgbarkeit der pandemischen Situation garantiert werden kann. Dabei sollten Personen in der Quarantäne auch Hilfsangebote unterbreitet werden und die Möglichkeit gegeben sein, sich außerhalb des eigenen Haushalts zu isolieren, um Ansteckungen etwa von Ehepartnern oder Kindern zu vermeiden. 

5 Ergänzung der Inzidenz-Zahl um weitere Kennzahlen und besseres Reporting der Daten durch das Gesundheitsamt

Zu der Inzidenz-Zahl sollten weitere Messgrößen hinzutreten: 

  • Die Anzahl der positiven Tests bezogen auf alle durchgeführten Tests. So lässt sich bestimmen, ob ein Anstieg durch ein verändertes Testregime oder Test-Strategie ausgelöst wird und daher lediglich des Dunkelfelds besser ausleuchtet oder aber andere Gründe hat.
  • Die Aufnahme von Covid-19-Erkrankten auf Intensivstationen. Diese Zahl ist ein verlässlicher und eindeutiger Indikator für die Entwicklung der Pandemie, die Auswirkung neuer Mutationen und auch für die Wirksamkeit von Impfungen in den kommenden Monaten. 
  • Daten über den sozio-demographischen Status der Angesteckten und der auf Intensivstation Aufgenommenen, beispielsweise Beruf, Pendlerverhalten und ähnliches. So lassen sich zukünftige Maßnahmen gezielter und wirksamer umsetzen. Wir fordern Sie auf, hier auch mit soziologischen Forschungsinstituten zusammenzuarbeiten. 
  • Außerdem sollte auch die Zahl der sogenannten ”Long-Covid“-Erkrankten entsprechend erfasst werden.
6 Unterscheidung zwischen Drinnen und Draußen

Die aktuelle Studienlage zeigt, dass sich in der nun anstehenden wärmeren Jahreszeit Möglichkeiten bieten, im Außenraum anders mit der Pandemie umzugehen als in Innenräumen. Im Frühjahr und Sommer sollten deshalb Sport für Kinder im Außenraum und auch Begegnungen zwischen Menschen aus zwei Haushalten möglich sein. Die Öffnung der Außengastronomie oder Kulturangebote und entsprechende Modellprojekte können aber erst in Betracht gezogen werden, wenn wir eine niedrige Inzidenz erreicht haben.

7 Versorgungsangebote für Long-Covid Erkrankte 

Wir fordern Sie auf, für die bereits jetzt an Long-Covid-Erkrankten zusammen mit den Trägern des stationären und niedergelassenen Gesundheitswesens Angebote zur Versorgung und Behandlung zu schaffen. Wir fordern Sie ebenso auf, für Kinder und Jugendliche mit dieser Erkrankung besondere Hilfs- und Bildungsangebote einzurichten.

8 Datenschutzkonforme digitale Hilfsmittel nutzen 

Der Einsatz digitaler Hilfsmittel, wie Kontaktverfolgungs- oder Check-in-Apps – aber auch anderer Werkzeuge – können die Arbeit der Gesundheitsämter erleichtern. Bei ihrem Einsatz sind Lösungen, die auf offener Software beruhen und von seriösen Entwickler*innen stammen, zu bevorzugen. Dezentrale Datenablage ist ein Muss.

9 Bürgerinitiativen und Bürgerwissenschaft einbeziehen 

Wir bitten Sie, in die Bewältigung der Strategie engagierte Bürger*innen, Bürgerforschung einzubeziehen und sich mit diesen auszutauschen.

10 Kinder und Jugendliche beteiligen

Kinder und Jugendliche sind besonders von den Maßnahmen der Pandemiebekämpfung betroffen und haben den Eindruck, dass sie weder gehört noch auf ihre Bedürfnisse in besonderer Weise geachtet wird. Wir fordern Sie daher auf, die Träger der Kinder- und Jugendhilfe, das Kinderbüro, das Jugendbüro und andere Fürsprecher*innen und die Kinder und Jugendlichen direkt anzuhören und zu systematisch zu befragen. Dabei sind insbesondere Vertretungen, die Kinder und Jugendliche direkt organisieren, zu berücksichtigen (z.B. Schüler*innenvertretung, Stadtjugendring).

Ein wirksamer und solidarischer Lockdown jetzt, der alle Bereiche der Gesellschaft einschließt, bietet eine Perspektive für alle Menschen und die Möglichkeit, unsere Freiheiten in einem absehbaren Zeitraum zurückzugewinnen.

All dies schaffen wir nur, wenn wir es allen Menschen in Freiburg und Baden-Württemberg ermöglichen, die nächsten Wochen Lockdown auch finanziell zu überstehen. Wir brauchen daher ein schnelles, solidarisches und unbürokratisches System, das sicherstellt, dass Löhne, Gehälter, Sozialleistungen, Bafög usw. weiter gezahlt werden. Wir wissen, dass unsere Forderungen eine große Belastung für Menschen – insbesondere für Kinder und sozial vulnerable Gruppen – darstellen. Wir sind uns bewusst, dass alle Menschen müde sind und das Vertrauen in die politischen Entscheidungen massiv erodiert. Genau aus diesem Grund sollten wir uns jetzt auf einen Weg begeben, der eine tatsächliche Entspannung der Pandemielage innerhalb weniger Wochen ermöglicht.

Nachdem dieses Ziel erreicht wurde, brauchen wir verlässliche Regeln, die ein erneutes Ansteigen der Infektionen in Freiburg und im Land verhindern. Im Gegensatz zu den derzeitigen Regeln der Ministerpräsident*innenkonferenz oder der “Notbremse” müssen diese sofort greifen und dürfen nicht zum Spielball einzelner Entscheidungsträger*innen werden. Diese Regelungen müssen für alle klar und verständlich kommuniziert werden.

Wir verbleiben mit freundlichen Grüßen und den Wünschen für eine gute Gesundheit für Sie und Ihre Familien und freuen uns auf Ihre Antwort auf unser Schreiben

Sebastian Müller und 46 andere Personen

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